Von Michelangelo Merisi da Caravaggio - The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=148809

Die Simulation des fremden Blicks

Teil 2: Spiegel als Zugang zum Selbst – Spiegelmetaphorik in der Literaturgeschichte

Von Alicia Koschorreck (Universität Siegen, 07.05.2020)

Spiegel gehören zu den ältesten Hilfsmitteln des Menschen, um sich ein Bild von sich selbst zu machen. Als Motiv, Metapher und Allegorie tritt der Spiegel in den Mittelpunkt. Nicht zuletzt, um einen Bezug zur Realität herzustellen. Die Verbindung von tatsächlicher Realität und literarischer Fiktion scheint eng miteinander verbunden zu sein.

Das Verhältnis des lyrischen Ichs zu sich selbst wird mit eigenen Gefühlen und Gedanken verglichen, die bei Selbstbetrachtungen im Spiegel auftreten (vgl. Schurf, Wagener 2012, S. 45). Bei der Untersuchung des Spiegels in seinen literarischen Funktionen sollen verschiedene Ansätze berücksichtigt werden. Letztlich lassen sich die verschiedenen Ansätze nicht vollständig voneinander abtrennen, da bereits durch die Symbolqualität des sprachlichen Zeichens <Spiegel>, die sinnlichen Erfahrungen bei dessen Verwendung in den Vordergrund rücken (vgl. Höhne 2005, S. 290). Nur zusammenhängend lässt sich die Frage beantworten, welche Ressourcen durch den Spiegel und die damit in Verbindung stehenden Metaphern erlangt werden können und welche Funktionen sowie Bedeutungen der Spiegel dabei annimmt und welche möglichen Bedeutungsveränderungen im Laufe der Jahre aufgetreten sind.

Dabei spielen Metaphern eine wichtige Rolle, da sie es ermöglichen, die sich durch den Spiegel eröffnenden Möglichkeiten zu erkennen und zu verstehen. Dies ist gerade dann von Bedeutung, wenn literarische Fiktion und Realität eng miteinander verwoben sind. Authentifizierungsprozesse treten in den verschiedensten literarischen Situationen zum Vorschein – spätestens, wenn man gezielt nach ihnen Ausschau hält. Die Selbstidentifizierung und der damit einhergehende Zugang zu der Ressource Selbsterkenntnis kann durch den Spiegel ermöglicht werden, so die Hypothese.

Metaphorik – Der Spiegel als symbolisches Zeichen

Sinnlich Wahrnehmbares kann zum Zeichen werden (vgl. Linke 2004, S. 19), dies trifft auch auf den Spiegel zu. Der Spiegel ist ein symbolisches Zeichen (vgl. Michel, Rizek-Pfister 2003, S. 1), wobei sich die Bedeutung erst durch Konventionen ergibt (vgl. Linke 2004, S. 22). Im Laufe unserer sprachlichen Entwicklung lernen wir, eine Lautkette mit einem Sinn zusammenhängend zu verbinden (vgl. Linke 2004, S. 30). Daraus lässt sich folgern, dass zugeschriebene Bedeutungen einem Wandel unterliegen können. Dies gilt auch für den Spiegel als Zeichen. Dazu kann auf das Zeichenmodell von de Saussures zurückgegriffen werden, welches den Zusammenhang von signifiant (der Zeichenform) und signifié (den Zeicheninhalt) darstellt (vgl. Linke 2004, S. 30). Nach Michel und Rizek-Pfister gilt für Symbole, „dass sie (a) nicht unmittelbar Zuhandenes wiewohl Vorhandenes (b) repräsentieren, insofern (c) jemand dieses Sinnverhältnis stiftet“ Michel, Rizek-Pfister 2003, S. 1). Bezüglich a) bedeutet das im Hinblick auf den Spiegel, dass das symbolische Gebilde vorhanden bleibt, auch wenn der Spiegel nicht betrachtet wird. Betrachten wir in diesem Zusammenhang zugunsten der Verständlichkeit einen Körper mit seinem zugehörigen Spiegelbild als symbolisches Gebilde. Die in b) bezeichnete Repräsentation ergibt sich durch einen sogenannten Kategoriensprung. Dieser Kategoriensprung liegt auch zwischen dem einem virtuellen Spiegelbild und einem Körper vor. Eine Sinnstiftung (c) ergibt sich, da ohne einen Beobachtenden die Kategorienübertragung nicht möglich ist (vgl. Michel, Rizek-Pfister 2003, S. 1f.). Erst durch diesen kann dem Spiegel beispielsweise die Bedeutung Eitelkeit zugeordnet werden.

Michel und Rizek-Pfister stellen die These auf, dass (Spiegel-)Metaphern nur dann vollständig in ihrem Sinngehalt erfasst werden können, wenn man alle mit dem signifiant in Verbindung stehenden Faktoren miteinbezieht. Dies gäbe wiederum die Möglichkeit, ein Problem zu lösen, das sehr vielfältig sein kann (vgl. Michel, Rizek-Pfister 2003, S. 2f.). Damit diese Konklusion als gültig betrachtet werden kann, werden zwei Prämissen aufgestellt, die grundlegend auf das Zeichenmodell Saussures zurückzuführen sind:

„Prämisse I: Eigenschaft des Modells – Jedes einzelne Spiegelfragment spiegelt das Urbild ab.“ (Michel, Rizek-Pfister 2003, S. 2)

Die Eigenschaften beziehen sich auf die natürlichen Eigenschaften des signifiants und somit beispielsweise auf die physikalischen Prinzipien. Dabei gilt es zu beachten, dass jene nicht festgeschrieben sind, sondern als angepasst an den jeweiligen historisch-kulturellen Kontext betrachtet werden müssen, da die Sinnzuschreibung vom jeweiligen Weltbild des Symbolnutzers abhängig ist (vgl. Michel, Rizek-Pfister 2003, S. 3). Aufgrund dessen wird im späteren Verlauf exemplarisch auf die veränderte Wertung des Spiegels eingegangen. Ein historisches Beispiel ist die Verwendung von Spiegeln auf mittelalterlichen Pilgerreisen als religiöse Speichermedien. Mit ihnen sollte die heilige Aura einer Reliquie bewahrt werden. Diese Nutzung scheint heutzutage kaum denkbar. Im damaligen Glauben war dies aber keineswegs abwegig (vgl. Berns 2014, S. 1131).

„Prämisse II: Metapher – Jedes Seiende ist gleichsam ein Abglanz seiner Idee.“ (Michel, Rizek-Pfister 2003, S. 2)

Eine Metapher ist nach Michel und Rizek-Pfister eine Angabe über das signifié, welche bildhaft und teilweise stereotypisch ist. Somit ergibt sich die Bedeutung der Metapher daraus, dass sie als Verbindungsstück zwischen dem Modell als solchem und der Konklusion gilt (vgl. Michel, Rizek-Pfister 2003, S. 3).

Die Prämissen zeigen, dass verschiedene Schwerpunkte betrachtet werden müssen, da sie voneinander abhängig sind. Nur so ist eine vollständige Erschließung der Spiegelmetaphorik möglich.

Die Relevanz der Spiegelmetapher

Im Vorausgegangenen wurde dargelegt, welcher Zusammenhang zwischen Sprache und Spiegel besteht und dass dabei Metaphern als ein wichtiges Bindeglied fungieren. Doch wozu ist dieses Wissen nützlich? Nach Höhne ist es die Spiegelmetapher, die sich am besten dazu eignet Subjektivität in Sprache zu fassen (vgl. Höhne 2005, S. 278). Subjektivität, als die ein Individuum auszeichnende Eigenschaft oder auch die persönliche Betrachtungsweise, lässt sich folglich sowohl in mündlicher als auch in schriftlicher Sprache feststellen. Also immer dann, wenn Spiegelmetaphern verwendet werden. Dabei gilt, dass bereits die Art und Weise wie Metaphern genutzt werden, Rückschlüsse auf das Individuum zulassen. Auch aus Sicht des Individuums, das die Möglichkeit erlangt, kognitive Bereiche zu erschließen, welche zunächst außerhalb des Beschreibbaren lagen (vgl. Höhne 2005, S. 283).

Die Spiegelmetaphorik

Wie bereits angedeutet, ist der Spiegel sowohl bezogen auf die Seite des Zeichenträgers als auch auf die Seite des Zeicheninhaltes abhängig vom kulturellen-historischen Kontext. Dies zeigt sich insbesondere im Vergleich der Semantik im Frauenlob zu den neuzeitlicheren Quellen.

Spiegel im kulturell-historischen Kontext des Mittelalters

Im Mittelalter waren Spiegel eine Rarität und zudem sehr wertvoll, wodurch sie als Standesattribut galten. Somit war es vorwiegend Adligen möglich, sich mit diesen zu zeigen. Aufgrund seiner besonderen Oberfläche war der Spiegel sehr wertvoll. Kein anderes Objekt wies zu diesem Zeitpunkt die Reinheit, Glätte und den Glanz auf, wie es ein Spiegel tat. Der Spiegel wurde zu einem Sinnbild. Nicht nur für einen makellosen Charakter, sondern auch für exklusive Schönheit. Gleichermaßen wurden Spiegeln auch geheimnisvolle Eigenschaften zugeschrieben, waren sie doch in der Lage Realität und Abbild voneinander abzutrennen (vgl. Hartmann 2011, S. 212f.). Das Mysteriöse des Spiegels ergibt sich auch aus der Unkenntnis in Bezug auf die Gesetze der Optik (vgl. Hartmann 2011, S. 202). Die Semantik des Spiegels wurde auch durch die Bibel und die Exegese beeinflusst. Während die Bestandteile des Spiegels zunächst häufig in Spiegelallegoresen auftreten, wobei sie zum einen für den Leib sowie die Seele des Individuums und andererseits durch ihre Brüchigkeit auf die Vergänglichkeit des irdischen Lebens hindeuten sollten, veränderten sie im Laufe der Zeit ihren Anwendungsbereich bis hin zur metaphorischen Nutzung für die Muttergottes sowie verschiedene irdische Idealbilder von Frauen (vgl. Hartmann 2011, S. 213). Dass Spiegel nahezu nur als Metapher für Frauen genutzt werden, lässt sich grundsätzlich auf die Doppelfunktion eines Spiegels zurückführen, welche (nur) auf die Frau übertragen werden kann. Die Doppelfunktion bezeichnet nach Heiko Hartmann die Fähigkeit, Licht und Bilder aus dem Umfeld nicht nur einzufangen und diese widerzuspiegeln, sondern diese auch wieder in die Welt hinaus zu senden. Die damalige Gültigkeit dessen wird darauf zurückgeführt, dass bereits die Bibel darauf zurückgreift (vgl. Hartmann 2011, S. 201). Die Aufnahmefunktion des Spiegels wird mit der Fähigkeit adliger und heiliger Frauen in Relation gesetzt, da diese, so Hartmann, beispielsweise das Bild der Gläubigen verinnerlichen und es weitergehend aufwerten. Die dargestellten Frauen vermögen es zugleich, wie auch ein Spiegel, etwas in die Welt hinauszusenden, nämlich ihre Tugenden sowie die angesprochene, exklusive Schönheit (vgl. Hartmann 2011, S. 213).

Der Spiegel in Mariendichtung und Minnesang

Bei der im Folgenden betrachteten Literatur handelt es sich um die Mariendichtung und den eher weltlichen Minnesang. Die besondere Stellung des Spiegels im Mittelalter wurde bereits aufgezeigt. Er wurde zusammenfassend auch als Symbol für das Göttliche betrachtet (vgl. Hartmann 2011, S. 201). In der Literatur werden im Zusammenhang mit Spiegeln häufig positive Kennzeichen verbunden (vgl. Hartmann 2011, S. 203). Bezüglich der Marienlyrik zeigte sich der Spiegel generell als Zeichen für die exklusive Vollkommenheit sowie die Jungfräulichkeit und Mittlerschaft von Maria (vgl. Hartmann 2011, S. 201). In der Mariendichtung wird Maria selbst zum Spiegel. Sie ist der Spiegel, die Helligkeit selbst und zeigt die unterschiedlichen Tugenden und Glaubensinhalte (vgl. Hartmann 2011, S. 204f.). Doch was bedeutet es, ein Spiegel der Helligkeit zu sein? Eine Umschreibungsmöglichkeit ist, sie als Erkenntnis- oder Korrekturfunktion des Selbst zu betrachten, ergo als eine Art Erleuchtung. Maria wird dabei zum Spiegel, indem der Rezipient in sie hineinblickt und dadurch die Entfernung der eigenen Person zur Idealität Marias erkennt. Dies kann bis zur Erkenntnis der eigenen Unwürdigkeit führen. In der Mariendichtung werden auch die natürlichen Eigenschaften beziehungsweise das Erscheinen des Spiegels mit Maria in Relation gesetzt. Da ihre fehlerfreie, von allen Erbsünden freie Seele der Spiegeloberfläche entspricht (vgl. Hartmann 2011, S. 205).

Der meist sehr weltliche Minnesang nutzt in vergleichbarer Weise die Frau als Spiegel. In Abgrenzung zur Mariendichtung handelt es sich bei der weiblichen Person jedoch nicht um Maria, aber teilweise um religiöse Frauen. Die als Spiegel genutzten weiblichen Figuren lassen sich zumeist als verehrt und umworben und als unerreichbar charakterisieren. Im Minnesang wirken zwei Faktoren miteinander: Einerseits strahlt die dargestellte Frau ihre Perfektion auf den betrachtenden Mann aus, wodurch er sowohl emotional als auch seelisch mehr seinem Stand entspricht. Dabei tritt in der Regel ein höfischer Mann auf, der seinem Adelsstand entsprechender wird. Andererseits erblickt der Mann sich selbst in der als Spiegel auftretenden Frau, wobei er sich so sehen kann, wie er als idealer Ritter sein müsste (vgl. Hartmann 2011, S. 208).

Authentifizierungsprozesse in mittelalterlicher Literatur

Spiegel dienen in der mittelalterlichen Literatur dazu, die eigene Identität erkennbar zu machen. In diesem Zusammenhang werden die Eigenschaften des Rezipienten aufgezeigt, die es zu verbessern gilt. Somit gelangt man, wenn die Authentifizierung mit dem Spiegel gelingt, an die Ressource der Selbsterkenntnis, zu einem Zugang zu sich selbst. Zusätzlich eignet sich der Mensch eine den Geist erweiternde Ressource an, da die Selbsterkenntnis dazu dient, den eigenen Geist zu gestalten. Da in der mittelalterlichen Literatur die Frau, ob religiös oder nicht, notwendig zu sein scheint, um diese Erkenntnisse zu erlangen, stelle ich die These auf, dass erst durch die Spiegelmetaphorik unbewusste Gedanken und Gefühle ins Bewusstsein treten können. Deutlich wird an Minnesang und Mariendichtung jedoch, dass die eigene Person für die Erkenntnisse nicht auszureichen scheint, sondern man den persönlichen Rahmen verlässt, um durch eine andere Person Rückschlüsse auf sich ziehen zu können. Da man jedoch nicht von der tatsächlichen Öffentlichkeit sprechen kann, da innere Vorgänge und Erkenntnisprozesse dem Betroffenen erst durch die Betrachtung einer anderen Person ins Bewusstsein treten, möchte ich mich auf den Begriff einer „imaginierten Öffentlichkeit“ beziehen.

Der Spiegel in der deutschen Literatur nach dem 18. Jahrhundert

Ein Zeitsprung. „Die Ungebrochenheit antiker oder mittelalterlichere Spiegelerfahrung ist grundsätzlich wenigstens dem neuzeitlichen Menschen versagt.“ postuliert Buddenberg (1950, S. 365). Im Laufe der Jahre entwickelte sich der Wissenstand weiter. Dies trifft auch auf die Erkenntnisse über die optischen Gesetze zu. Zugleich änderte sich das Menschenbild, weg von festen Idealen, hin zu dem Individuum Mensch. Folglich lässt sich die Art und Weise der im Mittelalter aufgezeigten Spiegelmetaphorik kaum noch auf neuere Zeitfenster übertragen (vgl. Hartmann 2011, S. 214). Die frühere Kostbarkeit des Spiegels ging verloren, da ein Großteil der Menschen nun einen Spiegel besitzen konnte, da die Preise sanken und die produzierte Menge durch technische Fortschritte zunahm (vgl. Grabes 1973, S. 9). Else Buddenberg erläutert dazu weiter, dass die Verwendung des Spiegelverhältnisses weitestgehend darauf gründete, dass der moderne Mensch nach einer Begegnung und Vergewisserung des eigenen Selbst verlange, welche immer wieder entgleite (vgl. Buddenberg 1950, S. 365f.).

Obwohl in der Literatur, welche nach dem 18. Jahrhundert entstanden ist, selten auch Anknüpfungen an religiös bedingte Spiegelsymboliken auftreten, scheint der Gottbezug weitgehend unrelevant (vgl. Höhne 2005, S. 292f.). Der Vergleich mit von gottbezogenen Tugenden und dem Menschen als Abbild Gottes trat in den Hintergrund und wurde vom Menschen selbst und seinem eigenen Abbild beziehungsweise dem seiner Seele weitestgehend ersetzt (vgl. Höhne 2005, S. 294.). All das minderte aber nicht die Bedeutung der Spiegelsymbolik (vgl. Buddenberg 1950, S. 360).

Zum Beispiel verweisen viele Werke Rilkes auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Person über die Spiegelmetaphorik (vgl. Buddenberg 1950, S. 363). Die Dichtung Rilkes zeigt dabei, dass dem sich Spiegelnden zwar immer sein Spiegelbild vor Augen geführt wird, aber die daraus entstehenden Erkenntnisse über die eigene Person sehr vielfältig sein und letztlich in Selbstverwirklichung enden können (vgl. Buddenberg 1950, S. 360 u. 385). Selbstverwirklichung meint „die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit durch das Realisieren von Möglichkeiten, die in jemandem selbst angelegt sind.“ (vgl. Duden.) Die eigenen Möglichkeiten können nur bewusst werden, wenn auf Wissen über die eigene Person zurückgegriffen werden kann. Wie auch in der mittelalterlichen Literatur dient die Auseinandersetzung mit einem im Spiegel betrachteten Abbild (im Mittelalter beispielsweise in Form von Maria) der persönlichen Entwicklung.

Akashe-Böhme zeigt in Anlehnung an den Spiegel aus dem Märchen Schneewittchen weiteres über den Spiegel auf. Den Blick einer weiblichen Figur in den Spiegel bezeichnet sie dabei als „prüfenden Blick“. Das von der Frau verfolgte Ziel ist es, sich selbst kritisch zu hinterfragen, bevor andere Menschen die Möglichkeit dazu haben. Akashe-Böhme bezeichnet den Spiegel in diesem Zusammenhang als „imaginierte Öffentlichkeit“. Dieses Vorgehen der sogenannten Selbstverfremdung ist jedoch beschränkt, da es dem Hineinblickenden letztlich nicht möglich ist, sich selbst auf die Weise zu sehen, wie es seine Mitmenschen tun (vgl. Akashe-Böhme 1992, S. 9f.).

Spiegel in Authentifizierungsprozessen in deutscher Literatur nach dem 18. Jahrhundert

Das Gedicht Das Spiegelbild von Annette von Droste-Hülshoff zeigt einige der zuvor dargestellten Punkte auf und lässt zugleich auf Authentifizierungsprozesse rückschließen. Bei dem Blick in den Spiegel kommt es zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst, wobei die Entfernung zum eigenen Ich so groß werden kann, dass das Spiegelbild als etwas Fremdes wahrgenommen werden kann. Dies zeigt, dass die Authentifizierung auch in diesem Fall am ehesten über den Begriff der „imaginierten Öffentlichkeit“ beschrieben werden kann. Zum einen, da Nähe und Entfernung des Vorgangs gleichermaßen beschrieben werden, zum anderen, da der Spiegel beziehungsweise konkret das Spiegelbild als Gesprächspartner dient. Durch die Verwendung des Spiegels kann der Zugang zur Ressource Selbsterkenntnis erreicht werden. Dieser Vorgang kann jedoch, wie das Gedicht von Droste-Hülshoff zeigt, einerseits nicht zwangsweise positive Gedanken darlegen, sondern andererseits auch in beschränktem Maße scheitern, wenn das lyrische Ich zu keinem eindeutigen Ergebnis kommt. In diesem Falle sollte jedoch bedacht werden, dass bereits der Zugang zu Gedanken und Gefühlen, welche sonst nicht im Bewusstsein vorhanden waren, in gewisser Weise einen Authentifizierungsprozess vorausgesetzt haben. Gleichermaßen zeigt sich, dass es anhand der Literatur möglich ist Selbstfindungsprozesse aufzuzeigen, welche sonst nicht bewusst sind.

Ein Resümee

Als Zusammenfassung sollen folgende Thesen dienen:

  1. Spiegel können in der Lyrik zur Verdeutlichung von Selbstfindungsprozessen dienen.
  2. Durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Person im Spiegel (in Form eines Objektes oder einer Person) kann an die Ressource der Selbsterkenntnis gelangt werden.
  3. Die Selbstbetrachtung kann den Zugriff auf unbewusste Gedanken und Gefühle ermöglichen.
  4. Spiegel können der Entwicklung des individuellen menschlichen Geistes dienen.
  5. Spiegel können als Gesprächspartner und dabei als „imaginierte Öffentlichkeit“ fungieren.

 

Literatur

  • Akashe-Böhme, Farideh (1992): Frau/Spiegel – Frau und Spiegel. In: Akashe-Böhme (Hrsg.) Reflexionen vor dem Spiegel (S. 9-11). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Akashe-Böhme, Farideh (1992): Fremdheit vor dem Spiegel. In: Akashe-Böhme (Hrsg.) Reflexionen vor dem Spiegel. (S. 38-49). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Buddenberg, Else (1950): Spiegel-Symbolik und Person-Problem bei R. M. Rilke. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Jan 1. (24), Stuttgart: Metzler Verlag. S.360-386.
  • Grabes, Herbert (1973): Speculum, Mirror und Looking-Glass. Kontinuität und Originalität der Spiegelmetapher in den Buchtiteln des Mittelalters und der englischen Literatur des 13.–17. Jahrhunderts. In: Gneuss, Helmut; Käsmann, Hans; Wolff, Erwin; Wolpers, Theodor. Buchreihe der Anglia. Zeitschrift für Englische Philologie. 16. Band. Tübingen: Max Niemeyer Verlag.
  • Hartmann, Heiko (2011): Spiegelmetaphorik im mittelalterlichen Marien- und Frauenlob. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik (68), S.201-216.
  • Höhne, Alexander (2005): Sprache als Spiegel. Zu Grundlagen, Strukturen und Aussagen der Spiegelmetaphorik in Rudolf Steiners „Mysteriendramen“ aus textsemantischer Sicht. Basel: CopyQuick.
  • Linke, Angelika; Nussbaumer, Markus; Portmann, Paul R. (2004): Studienbuch Linguistik. 5. Auflage. Tübingen: Max Niemeyer Verlag.
  • Schurf, Bern; Wagener, Andrea (2012): Deutschbuch für die Oberstufe. Texte, Themen und Strukturen. Berlin: Cornelsen Verlag.

Über die Autorin

Alicia Koschorreck studiert an der Universität Siegen. Sie war Teilnehmerin des Seminars „Sprachliche Identifizierung und Zugangskontrolle“ im Sommersemester 2019 an der Universität Siegen.