Studierende untersuchen Authentifizierungspraktiken (SoSe 2019)

Von Friedemann Vogel (Universität Siegen, 04.07.2019)

Im Sommersemester 2019 habe ich als Lehrender der Universität Siegen ein erstes Forschungsseminar zu Praktiken der Authentifizierung durchgeführt. Die Seminarankündigung lautete wie folgt:

Gegenstand des Seminars ist die gemeinsame explorative Erforschung von sprachlich-kommunikativen Formen der sozialen Identifizierung und der Zugangskontrolle im Kontext digitaler Medien: Wie erkennen wir uns als Personen und Angehörige einer sozialen Gruppe (oder „der“ Gesellschaft) wieder – etwa am Telefon, am Türsprecher oder in sozialen Medien? Wie erfolgt die sozialsemiotisch konstruierte Kontrolle zu bestimmten Ressourcen – sei es etwa der Zugang zu Mobilität (Fahrkartenkontrolle im Bus), zu Unterhaltung (Türsteherkontrolle vor einer Disko), zu besonderen Räumen (Zugangskontrolle in der DB-Lounge erster und zweiter Klasse oder Zugangskontrolle via Türklingel und Türgucker am Hauseingang), zu Geldvermögen (Authentifizierungsverfahren am Bankschalter), zu sozialen Leistungen des Staates (kommunikative Verfahren zur Aufnahme als Staatsbürger) und anderes? Wie werden erteilte Zugangsrechte wieder aufgehoben – etwa beim „erklärten“ Tod eines Menschen, bei Verstoß gegen gesellschaftliche Normen usw.? Und wie verändern digitale Systeme diese im Grunde anthropologischen kommunikativen Praktiken?

Die auf Master-Level angesiedelte Lehrveranstaltung bestand aus drei ineinandergreifenden Teilen:

  1. Theoretische Grundlagen und empirische Fallstudien aus der Forschung: Grundlagen zur Sozialsemiotik (am Beispiel Typographie, Spitzmüller 2010), zu Selbst- und Fremdpositionierungen (Lucius-Hoene und Deppermann 2004a.), zur multimodalen Interaktionsforschung (einschl. Forschung zu „Interaktionsarchitekturen“, Hausendorf/Schmitt 2016), zu Authentifizierungspraktiken (Vogel im Druck); zu Fallstudien und Ansätze zur Identifizierung in der Gesprächseröffnung am Telefon (Schegloff 1979), zu Mode als sozial-distinktives Zeichensystem (Simmel 1905) und zu ‚Identitätsdiskursen‘ (Gill 2014).
  2. Forschungspraktische Grundlagen: Entwicklung eines Untersuchungsdesigns, Fragen der Recherche, Datenerhebung und der empirischen Auswertung von Daten (Hypothesengewinnung).
  3. Entwicklung, Durchführung und Dokumentation von Studienprojekten zu im Vorfeld skizzierten Gegenstandsbereichen.

Zur Auswahl standen die folgenden Studienprojektthemen, die unter Absprache weiter konkretisiert werden mussten.

  • Praktiken des als-Mensch-erkannt-Werdens: Zugang zu den Ressourcen unserer Gesellschaft (unseres Staates) erhält man erst, wenn man als Mensch anerkannt wird. Doch unter welchen Bedingungen ist das der Fall? Welche sprachlich-kommunikativen Praktiken sind dafür verantwortlich, aus einem noch ungeborenen ‚Zellklumpen‘ ein ‚Lebewesen‘ mit Schutzrechten zu erklären? Welche Textsorten, Zeichen- und Gesprächsroutinen verankern ein neugeborenes Lebewesen in unserer Gesellschaft, machen es identifizierbar (von der Namensgebung innerhalb einer bestimmten Frist über das Ausfüllen von Formularen noch im Krankenhaus bis hin zu den (sprachlichen!) Verwaltungsakten, in deren Rahmen Datenbanksätze angelegt, Nummern vergeben werden usw.)?
  • Praktiken der Mensch-Löschung: Wie stellen Gesellschaften sicher, dass ein Mensch nach seinem Tod als Mitglied aus dieser Gesellschaft ‚getilgt‘ wird und sich zum Beispiel niemand durch Vortäuschen einer falschen Identität etwaige Ressourcen erschleichen kann? Welche sprachlich-kommunikativen Praktiken sind daran beteiligt, das ‚Ausscheiden‘ eines Menschen zu dokumentieren und zu verbreiten (vom Ausstellen des Totenscheins über Verwaltungsakte bis hin zur Totenfeier und Todesanzeigen auf öffentlichen Plakaten (wie in Italien) oder in Zeitungen (wie in Deutschland))?
  • Täter-Suche in sozialen Medien: Polizeien rufen zuweilen in sozialen Netzwerken dazu auf, Beschuldigte oder Tatverdächtige zu suchen und bei Auffinden etwaige Spuren zu melden. Welche sprachlich-kommunikativen Praktiken spielen bei dieser Kombination aus professioneller und Laienkriminalistik eine Rolle? Wie gestalten sich die Identifizierungsversuche? Welchen Einfluss hat dabei das Medium (des Internets)? Welche erwünschten oder unerwünschten (z.B. „Hexenjagd“ oder Umgang mit fälschlich Verdächtigten) Folgen haben solche öffentlichen Fahndungsaufrufe?
  • Der Spiegel früher und heute: Was war und was ist die Funktion eines Spiegels als technisches Hilfsmittel der ‚Selbstidentifizierung‘? Wie sprechen wir über Spiegel (Metadiskurse)? Welche Rolle spielen Spiegel in der fiktionalen Literatur oder in Filmen? Eine kleine Soziokulturgeschichte des Spiegels.
  • Kontrolle in Bus und/oder Bahn: Nach welchen Vorschriften und/oder informellen sprachlich-kommunikativen Routinen verlaufen Fahrscheinkontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln? Wie signalisieren Kontrolleur und Kontrollierter gegenseitige Kooperation? Was geschieht (an musterhaftem Verhalten) bei Irritationen – fehlendem oder falschem Fahrschein? Welche Rolle nehmen Zuschauer ein? Welchen Einfluss haben technische Hilfsmittel?
  • Das Erkennen von Fake-News / Fake-Mails: Die Internetkommunikation ermöglicht heute, auch ohne große Ressourcen eigene Informationen an eine große Zahl von potentiellen RezipientInnen zu verteilen. Woran erkennen wir, was eine ‚glaubwürdige‘ Information und was ‚Fake-News‘ (‚Falschnachrichten‘) oder ‚Fake-Mails‘ (Phishing, Werbung usw.) sind? Was raten sich Internetakteure untereinander (z.B. in Foren oder sozialen Medien)? An welchen sprachlich-medialen Merkmalen machen Internet-Nutzer unterschiedlicher sozialer Prägung (Alter, Gender, Ausbildung, Ort usw.) fest, ob sie es mit Fake-News zu tun haben oder nicht?
  • Bot oder Mensch? Das Thema „social Bots“ bestimmt in regelmäßigen Abständen die öffentliche Diskussion (etwa mit Blick auf Wahlmanipulationen o.ä.). Doch woran erkennen wir, ob wir es in einer direkten sprachlichen Interaktion (z.B. in Forendiskussionen, in Chats oder auf Dating-Plattformen) mit einem ‚echten Menschen‘ oder nur mit einem ‚Sprachalgorithmus‘ zu tun haben? Welche sprachlich-medialen Merkmale sind für Internet-Nutzer unterschiedlicher sozialer Prägung (Alter, Gender, Ausbildung, Ort usw.) hierbei relevant?
  • Identifizierungsverfahren in der Wikipedia (das ‚Entlarven‘ von ‚Übeltätern‘): Die Artikel in der Wikipedia werden von einer großen Zahl wechselnder, freiwilliger und meist anonym auftretender AutorInnen geschrieben. Nicht immer ist eine ‚Mitarbeit‘ aber willkommen: Woran erkennen sich ‚echte‘ WikipedianerInnen untereinander? Wie identifizieren sie ‚Unechte‘, ‚Störenfriede‘? Welche Schemata nutzen die Beteiligten, um ‚Störer-Aktivitäten‘ sprachlich zu erkennen (z.B. „Trolle“ oder „Lobbyisten“) und auszuschließen? Welche Konflikte und Verfahren zur Konfliktlösung gibt es dabei?
  • Grenzziehungen und Zugangsüberwachung im privaten Eingangsbereich (Privathäuser): Privateigentum hat in der westlichen, kapitalistischen Kultur einen großen Stellenwert. Es wird darum rechtlich geschützt. Aber nicht nur: mit welchen sprachlichen, bildhaften, architektonischen und medientechnischen Zeichen und Zeichenkonstellationen wird Privateigentum und die exklusive Verfügung durch den Eigentümer markiert? Wie werden Eingangsbereiche – als Grenze zwischen Innen und Außen – von Privathäusern gestaltet?
  • Die Rolle des Türstehers / des Concierge: Was ist ein „Concierge“ und/oder was ist ein Türsteher? Welche sprachlich-kommunikativen Aufgaben prägen seine Arbeit? Welche Rolle spielt er als Gatekeeper im Eingangsbereich von Clubs, Restaurant, Hotels oder Wohnhäusern? Wie wird über Türsteher/Concierge in der Öffentlichkeit gedacht oder geschrieben? Welche Rolle spielen und welche Stereotype prägen sie in Autobiographien, in Dokumentationen, Spielfilmen oder in der belletristischen Literatur?
  • Was ist ein „echter Siegener“? Was macht einen ‚echten‘ Siegener aus? An welchen sprachlichen, modischen usw. Merkmalen erkennt man ihn? Was kennzeichnet einen ‚falschen‘ Siegener? Welche Stereotype über ‚Siegener Teilgruppen‘ gibt es in der Bevölkerung? Haben sich diese Stereotype über die Zeit verändert? Ist die Einschätzung, was einen ‚echten Siegener‘ ausmacht, von Stadtteilen und/oder sozialen Milieus/Subkulturen abhängig?
  • Der Fall #ChebliRolex: Im Herbst 2018 wurde bekannt, dass die SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli eine Rolex-Uhr trägt. Die Folge waren heftige Auseinandersetzungen in Presse und sozialen Medien zu der Frage, ob dies angemessen sei oder nicht. Wie gestaltete sich diese Debatte? Welche Argumente wurden von Befürwortern und Gegnern vorgebracht? Wie wird das Darstellen von Armut oder (hier:) Reichtum als wesentlicher sozialer Ordnungsfaktor unserer Gesellschaft in der Öffentlichkeit bewertet?
  • Parfüm-Beratung: Welche Rolle spielt Geruch bei der Identifizierung unter Menschen? Welcher Duft (Geruch) ist warum der richtige für Sie? Was sagen Ratgeber zur Auswahl des ‚richtigen‘ Parfüms? Welchen Rat geben Angestellte in Parfümerien? Welche Moden gab oder gibt es und wie werden Parfüm-Moden sprachlich-kommunikativ begleitet?
  • Authentifizierung in der Tierwelt (insb. Mäusen): Wie identifizieren sich Tiere untereinander, etwa Mäuse, Hunde, Wale oder Fische? Welche Verhaltensmuster sind bekannt? Welche Rolle spielen dabei die verschiedenen Sinneskanäle? Welche Unterschiede oder Gemeinsamkeiten gibt es mit menschlichen Identifizierungspraktiken?
  • Aufnahmerituale in sozialen Gruppen an/rund um Universitäten: Initiationsrituale (‚Gruppenaufnahmerituale‘) wurden in der Ethnographie und der Soziologie bereits vielfach untersucht. Welche Initiationsrituale finden sich in sozialen Gruppen an der und rund um die Universität? Welche sprachlich-kommunikativen Praktiken prägen die Aufnahme in eine Burschenschaft? Welche formellen und informellen Abläufe beeinflussen die Berufung von neuen Professuren oder die Besetzung von Rektoratsposten?

Aus diesen ursprünglich 15 Projektthemen haben sich im Rahmen des Seminars letztlich 10 jeweils mehrköpfige Projektgruppen gebildet. Die Ergebnisse ihrer Recherchen und explorativen Analysen skizzieren sie hier in diesem Blog. Ich danke allen TeilnehmerInnen des Seminars für die lebhaften Diskussionen und das teilweise großartige Engagement in den Projektgruppen!