Workshop am 09./10. Mai 2019, Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Hamann / Vogel / Walter, Workshop Heidelberg 9./10. Mai 2019
1. Korpusanalyse – das neue Werkzeug der US-amerikanischen Richterschaft
Mecklenburg-Vorpommern, 10. Mai 2006: Die Polizei hebt eine Cannabisplantage im Dachboden eines Wohnhauses aus und findet dabei eine mit Paketklebeband am Dachbalken befestigte Pistole, die als Selbstschussanlage Einbrecher abschrecken sollte. Haben die Tatverdächtigen beim Anbau von Betäubungsmitteln eine Schusswaffe „mit sich geführt“ im Sinne von § 30 a Abs. 2 Nr. 2 BtMG? Das, so entscheidet der BGH (4 StR 435/07, BGHSt 52, 89), hängt vom „normalen Sprachgebrauch“ bzw. „allgemeinen Sprachverständnis“ ab. Und den meint das Gericht im Duden sowie im Wörterbuch der Gebrüder Grimm zu finden.
Doch der Fall ist gar nicht so neu. Louisiana (USA), zehn Jahre zuvor: Frank J. Muscarello, ein seit Jahren pensionierter Polizist, aber noch immer bewaffneter Gerichtsdiener, ist 1994 im Auto unterwegs, um Marihuana zu verkaufen. Er wird verhaftet, im Handschuhfach des Wagens liegt noch seine Schusswaffe. Hat Muscarello diese Waffe bei sich „getragen“ (carries a firearm) im Sinne der einschlägigen Strafschärfungsvorschrift § 924(c)(1) U.S.C.? Das Oberste Bundesgericht sucht die „gewöhnliche Bedeutung“ (ordinary English meaning) des Verbs carry und findet sie wiederum in Wörterbüchern: Fünf davon nutzt es, aber auch die „größten der Schriftsteller“ werden angehört – jene von Bibel, „Robinson Crusoe“ und „Moby Dick“. Doch Widerspruch folgt auf dem Fuße: Das ablehnende Sondervotum zitiert zum Beweis des Gegenteils alternative Bibelübersetzungen und, mit unverkennbar ironischen Unterton, Gegenbeispiele aus Fernsehhits wie M*A*S*H, „Die glorreichen Sieben“ und Sesamstraße. Und wiederum: Ein Wörterbuch.
In diesen „Krieg der Wörterbücher“ hinein wagt sich später ein Referendar (clerk) mit linguistischem Studienabschluss, der alle Annahmen widerlegt, die beide Richterfraktionen zum Wörterbuch geführt hatten (Mouritsen, BYU L. Rev. 2010, 1915). Er erläutert, dass „gewöhnlicher Sprachgebrauch“ weder aus richterlichem Sprachgefühl noch aus der Autorität von Wörterbüchern, sondern nur durch Auswertung großer Stichproben „gewöhnlicher“ Sprache zu gewinnen sei. Korpuslinguistik nennen Sprachwissenschaftler diese Methode, und sie geht wie ein Lauffeuer durch die US-Rechtsprechung: 2011 erstmals von einem Obergericht benutzt (In re Baby E.Z., Utah 266 P. 3d 702) und dem Obersten Bundesgericht vorgeschlagen (FCC v. AT&T, Amicus Brief Neal Goldfarb), hatte 2016 bereits ein Obergericht am anderen Ende des Landes die Korpuslinguistik als “consistent with how courts have understood statutory interpretation” anerkannt (People v. Harris, Michigan 885 N.W.2d 832). Ihr Siegeszug scheint unaufhaltbar.
2. Empirische Sprachgebrauchsermittlung als wissenschaftliches Desiderat
Trotz dieser praktischen Relevanz ist die juristische Korpusmethodik in den USA massiv untertheoretisiert. Umgekehrt hierzulande: In Deutschland blickt die Rechtslinguistik auf jahrzehntelange Vorarbeiten seit Wittgensteins sprachphilosophischer Grundlegung (1953), ihrer Rezeption durch Friedrich Müller (1966) und den Heidelberger Arbeitskreis für Rechtslinguistik (seit 1984) zurück (Hamann/Vogel, BYU L. Rev. 2018, 1473) – dafür ist sie jedoch den meisten Juristen unbekannt und in der Rechtsprechung bislang folgenlos geblieben.
Dieser Befund ermutigt sowohl zur Zusammenführung der US-amerikanischen und europäischen Diskurse – etwa durch die Forschergruppe CAL² (www.cal2.eu), die vor drei Jahren in Heidelberg die erste internationale Tagung zur juristischen Korpuslinguistik ausrichtete (Lukas, ARSP 2017, 136) – als auch zum Gespräch zwischen Theoretikern und Praktikern des Rechts im deutschsprachigen Raum. Die wissenschaftliche Reflexion der empirischen Sprachgebrauchsermittlung lässt sich von ihrer praktischen Erprobung kaum trennen. Nur so lassen sich der Bedarf und praktische Nutzen der neuen Methodik für das deutsche Recht abschätzen und ihre wissenschaftlich fundierte Nutzung in künftigen Fällen sicherstellen.
Letztlich steht ein hehres Versprechen im Raum: Korpusmethodik ist empirisch-induktiv, datengeleitet und wissenschaftlich replizierbar. Sie verspricht eine Demokratisierung der Rechtssprache, zwingt sie doch Richter dazu, den Lehnstuhl ihrer Wörterbuchlektüre zu verlassen und dem Volk „auf das Maul zu sehen“, wie Luther einst formulierte (Hamann in: Vogel, Zugänge zur Rechtssemantik 2015, 184). Steht der Rechtsmethodik damit ein Paradigmenwechsel ins Haus, oder erweist sich die Korpusmethode als Glasperlenspiel für übereifrige number cruncher?
3. Workshop in Heidelberg 2019
Darüber diskutieren soll Anfang Mai 2019 ein von der Akademie-Nachwuchsgruppe Computer Assisted Legal Linguistics (CAL²) gemeinsam mit Prof. Tonio Walter (Universität Regensburg) und dem Heidelberger Arbeitskreis für Rechtslinguistik veranstalteter Workshop in den Räumen der Akademie der Wissenschaften Baden-Württemberg.
Geplant sind Themenblöcke zu jedem Rechtsgebiet mit je zwei empirischen Studien (Allgemeinsprachgebrauch/Fachsprachgebrauch), besetzt mit jeweils einem Korpuslinguisten und einem Rechtspraktiker, die sich vorab über ein konkretes Anwendungsbeispiel verständigen, zu dem eine korpuslinguistische Pilotstudie mit kurzem Studienbericht erfolgt. Aufgabe der Praktiker ist es, diesen Studienbericht, den sie etwa eine Woche vor der Tagung erhalten, zu kommentieren, kritische Annahmen aufzuzeigen, ihre Relevanz für die Rechtspraxis zu erörtern und Verbesserungsvorschläge für die spätere Schriftfassung anzuregen.
» Nähere Informationen und Programm: Empirische Sprachgebrauchsermittlung im Recht